Informieren

Inhalt

  1. IHRA-Definition
  2. Funktionsweisen von Antisemitismus
  3. Israelbezogener Antisemitismus
  4. Verschwörungserzählungen und Antisemitismus

1. IHRA-Definition

Die Arbeitsdefinition Antisemitismus ist eine internationale Definition, die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) entwickelt wurde. Sie lautet:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Sie wurde 2016 verabschiedet und 2017 von der Bundesregierung zur Kenntnis genommen mit dem Zusatz:

Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.

Die IHRA-Definition von Antisemitismus umfasst elf Beispiele für antisemitische Äußerungen und Handlungen, u.a.

  • Verleumdung, Hassrede und Diffamierung von Jüdinnen und Juden oder als Jüdisch gelesene Personen.
  • Die Darstellung von Juden als kollektiv verantwortlich für die negativen Ereignisse der Welt.
  • Die Verwendung antisemitischer Stereotype, wie die Darstellung von Juden als geldgierig, machthungrig oder verräterisch.
  • Die Leugnung oder Verharmlosung der Schoa.
  • Die Unterstützung oder Verteidigung antisemitischer Organisationen oder Einzelpersonen.
  • Die physische oder verbale Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, Menschen, die als Jüdisch gelesen werden oder jüdisches Eigentum.
  • Die Diskriminierung von Jüdinnen und Juden in der Bildung, im Arbeitsleben oder in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens.

Die Arbeitsdefinition der IHRA wird in vielen Bereichen angewandt, ist jedoch nicht rechtsbindend. Alle hier verlinkten Organisationen erkennen die IHRA-Definition und wenden sie an.

Die IHRA-Definition von Antisemitismus ist wichtig, weil sie hilft, Antisemitismus zu erkennen und zu bekämpfen. Sie bietet eine gemeinsame Grundlage für die Diskussion und Bekämpfung von Antisemitismus und hilft dabei, zu verhindern, dass Antisemitismus verharmlost oder relativiert wird. Jedoch kann eine betroffene Person einen Vorfall als antisemitisch einordnen, der nicht unter die IHRA-Definition fällt.

Quellen:

2. Funktionsweisen von Antisemitismus

Antisemitismus ist kein bloßes Vorurteil, also kein aus Dummheit, Unwissenheit oder Ignoranz entstandenes Fehlurteil über Juden. Antisemitismus ist eine aus Leidenschaft geborene Ideologie, eine Weltanschauung, die das Denken der Antisemit*innen bestimmt und Erlebtes emotional und intellektuell vorstrukturiert.

Die moderne Welt stellt nämlich an den Menschen enorm hohe kognitive Anforderungen: Informationen prasseln ungefiltert auf ihn ein, nur sehr selten hat er die Zeit oder die Kapazität, um Sachverhalte abschließend durchdringen zu können, ständig wird er mit unvereinbaren Informationen, Meinungen, Gefühlen konfrontiert und ist somit gezwungen, als Gewissheit abgespeicherte Informationen zu hinterfragen und neu zu bewerten. Dabei wird dem Menschen auch emotional abverlangt: Er wird mit Leid und Tod, Ungerechtigkeit und Werteverfall konfrontiert; einfache Antworten auf die existentiellen Fragen des Menschseins gibt es nicht.

Der Antisemitismus hingegen ermöglicht dem Menschen in seiner Funktion als Ideologie, einfache Erklärungsmuster für Dinge zu finden, die er nicht erklären kann oder will. Alles Unverstandene, Widersprüchliche, Schmerzhafte, Undurchsichtige in der Welt kann er fortan dem Wirken einer sinistren Elite von (jüdischen) Verschwörern zuschreiben, die als Sinnbild aller negativen Auswüchse der Moderne schlechthin erscheint.

„Der Antisemit“ wiederum rechnet sich selbst einer Gemeinschaft der guten, gerechten und naturwüchsigen Menschen zu, die den „jüdischen Eliten“ unversöhnlich gegenübersteht. Im krassen Gegensatz zu den beschränkten Möglichkeiten der politischen und gesellschaftlichen Partizipation des Menschen in der Moderne wird „der Antisemit“ vom einfachen, einflusslosen Bürger zur Rebell*in, Widerstandskämpfer, Prophetin.

Er ist nicht länger der Vereinzelung des modernen Menschen unterworfen, sondern wähnt sich im tröstlichen Schoß einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Durch diese simple Gut-Böse-Dichotomie ist „der Antisemit“ auch in der Lage, das Böse und all die Ungerechtigkeit in der Welt zu erklären. Der Dämon hat nun einen Namen und ein Gesicht und kann somit konkret bekämpft werden, ohne dass er gesellschaftliche Widersprüche aushalten und systemimmanente Probleme wirklich angehen muss.

Der Antisemitismus bleibt ein bloßes Ausagieren von Affekten, ein Aufbegehren aus bloßem Leidensdruck, eine autoritäre Rebellion. So ist auch zu erklären, warum Antisemit*innen den Antisemitismus so leidenschaftlich betreiben und so selten von Fakten zu beeindrucken sind: „Der Antisemit“ glaubt an die Richtigkeit seiner Annahmen, egal, ob sie sich nun letztlich als wahr oder falsch erweisen.

Der emotionale Mehrwert, den der Antisemitismus bietet, ist für das Individuum zu wichtig, um von simplen Fakten zerschlagen zu werden.

Quellen:

  • Samuel Salzborn: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne, 2010.
  • Jean-Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage, 2020.
  • Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code, 2000.

3. Israelbezogener Antisemitismus

Israelbezogener Antisemitismus ist insbesondere in Deutschland Teil der Umwegskommunikation, die antisemitische Äußerungen nach 1945 kennzeichnet, weil offener Judenhass nun als Tabu wahrgenommen wurde. Stattdessen wurde Antisemitismus oft über argumentative Umwege, Chiffren oder Codes ausgedrückt, vor allem über den Staat Israel.
Der Staat Israel nimmt im Denken der Antisemit*innen als „Kollektivjude” dieselbe Funktion wie „der Jude“ im Antisemitismus ein. Ein erster Anlaufpunkt, um israelbezogenen Antisemitismus zu erkennen, ist der 3-D-Test (Nathan Sharansky): Entweder wird Israel delegitimiert, das heißt die Existenz des Staates wird grundlegend hinterfragt. Das geschieht zum Beispiel sehr häufig in der Rezeption des Nahostkonfliktes und auch im Antisemitismus der Hamas, die Israel als Staat auflösen und von Jüdinnen*Juden „befreien” will.

Oder Israel wird dämonisiert, zum Beispiel für alles Übel auf der Welt oder wahlweise im Nahen Osten verantwortlich gemacht - dabei werden oft seit Jahrhunderten bestehende antisemitische Denkweisen hervorgeholt, zum Beispiel in der Parole „Kindermörder Israel” oder im Vorwurf, Israel hätte Felder im Iran vergiftet, was den seit dem Mittelalter geläufigen antisemitischen Brunnenvergifterlegenden frappierend ähnelt.

Zuletzt wird die israelische Demokratie beim israelbezogenen Antisemitismus oft mit Doppelstandards bewertet: In westlichen Demokratien werden beispielsweise rechtskonservative Parteien normalerweise als problematischer Teil der Demokratie gesehen, und auch Rassismus oder als schwierig bewertete Asylrechte oder ungleiche Rechte für Homosexuelle führen nicht dazu, dass ein Land als undemokratisch oder faschistisch bewertet und mit den Nationalsozialisten verglichen wird. Israelbezogener Antisemitismus ist, wenn Tatsachen oder staatliche Entscheidungen, die in anderen Demokratien als Teil ihres Aushandlungsprozesses wahrgenommen werden, als „faschistisch” oder „undemokratisch” bezeichnet werden und dieser Vorwurf dann in vielen Fällen wieder mit Delegitimierung verknüpft wird.

Außerhalb des 3-D-Testes bemüht heutiger israelbezogener Antisemitismus oft eine sehr einfache, „Juden” und „Nichtjuden” faktisch völlig falsch in zwei Lager aufteilende Identitätsidee- und Politik: Jüdinnen*Juden, Israeli*nnen, Zionist*innen und „white colonizers” sind beim israelbezogenen Antisemitismus eine Gruppe, die einer anderen (als unterdrückt gelesenen) Gruppe gegenübergestellt wird.

Dieses Denken ist wieder Ausdruck eines Manichäismus: die Welt wird in zwei Gruppen, Gut und Böse unterteilt. Natürlich ist diese Sichtweise auf „Juden“ und „Nichtjuden“ und den Nahostkonflikt faktisch völlig falsch und ignoriert viele Tatsachen, z.B. dass in Israel sehr viele Mizrachim („arabische Jüdinnen*Juden”) und Sephardim leben. Darüber hinaus sind in Israel 25% der Bevölkerung nichtjüdisch, dort leben muslimische Araber*innen, Christ*innen usw. mit vollen, gleichgestellten Rechten. An der falschen Vorstellung von Israel und an der völlig übermäßigen angenommenen „Macht” und dem „bösen Willen” Israels oder gar einer fabulierten Zielsetzung von „Jewish supremacy“ erkennt man sehr gut, dass israelbezogener Antisemitismus, gerade auch im Bezug auf den Nahostkonflikt, sich in seinen Denkmustern nicht grundlegend von anderen Antisemitismusformen unterscheidet.

Quellen:

  • Nathan Sharansky: 3D test of Anti-Semitism: Demonization, double standards, delegitimization, 2004.
  • Klaus Holz; Thomas Haury: Antisemitismus gegen Israel, 2020.
  • Heiko Beyer: Theorien des Antisemitismus: Eine Systematisierung. 2005.
  • Monika Schwarz-Friesel; Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, 2013.

4. Verschwörungserzählungen und Antisemitismus

Verschwörungen sind in der Geschichte der Menschheit nichts Außergewöhnliches. Von der Ermordung Cäsars bis hin zur Watergate-Affäre schlossen sich seit Anbeginn der Menschheit Männer und Frauen im Geheimen zusammen, um einen Komplott gegen eine Person oder eine politische Institution zu verwirklichen. So alt wie die Verschwörung selbst ist auch das Interesse daran, diese zu enttarnen. In der Vergangenheit war es oft das Ziel von Journalist*innen oder Agent*innen, der Ursache einer Verschwörung auf den Grund zu gehen, und oft wurde durch ihr Wirken auch eine Verschwörung vereitelt oder im Nachhinein aufgedeckt.

An Verschwörungen zu glauben ist also zunächst einmal vernünftig. Bei manchen Menschen jedoch gerinnt der Glaube an eine Verschwörung immer mehr zu einer Ideologie, die eine hohe Überschneidung zu antisemitischen Narrativen aufweist. Verschwörungsideologien zeichnen sich dadurch aus, dass sie gegen Kritik und Argumente immun sind. Sie suchen in der Existenz einer omnipotenten Elite aus Verschwörern die Begründung für alles Übel und alle Abläufe in der Welt. Verschwörungsideolog*innen sind davon überzeugt, die absolute Wahrheit erkannt zu haben. Die Verschwörung, an die sie glauben, ist nicht zeitlich und lokal begrenzt, sondern allumfassend. Alles und jeder steht miteinander in Verbindung und ist entweder Teil der Verschwörung oder ihr (hilflos) ausgeliefert. Dadurch wird auch jede legitime Kritik an der Verschwörungserzählung oder -ideologie als vermeintliche Bestätigung in das Weltbild eingebaut. Genau wie antisemitische Narrative erweist sich die Verschwörungsideologie als Fakten gegenüber immun.

Bereits im Mittelalter waren Verschwörungsideologien gegen Jüdinnen*Juden gerichtet und führten immer wieder zu Pogromen an der jüdischen Bevölkerung. Ein trauriges Beispiel dafür sind die sogenannten Pestpogrome, bei denen Christ*innen den Jüdinnen*Juden vorwarfen, mithilfe von Zaubertinkturen Brunnen mit dem Pesterreger vergiftet zu haben. In dieser sehr alten Verschwörungserzählung sind bereits viele antisemitische Narrative enthalten, die bis heute in aktualisierter Form von Antisemit*innen verwendet werden, um ihren Antisemitismus zu verbalisieren: Aus der Brunnenvergiftung des Mittelalters wird etwa heute der Wasserraub im Libanon. Auch folgt die Verschwörungsideologie derselben affektiven Logik wie der Antisemitismus und bedient im Individuum dieselben Bedürfnissen nach einer widerspruchsfreien, in Gänze verstandenen Welt ohne emotionale oder intellektuelle Dissonanzen.

Einige Verschwörungsideologien, zum Beispiel der Glaube an eine globale Verschwörung unter der Kontrolle der Familie Rothschild, zeigen schon nominell den antisemitischen Kern der Erzählung auf. Bei anderen Verschwörungserzählungen ist der antisemitische Gehalt hingegen schwerer zu dechiffrieren. In diesem Fall werden nicht unbedingt Juden als konkrete „Schuldige“ und Drahtzieher aufgerufen, sondern andere Codes verwendet, die dieselbe narrative Funktion einnehmen. Schaut man sich diese Narrative jedoch genauer an, wird ab einem bestimmten Punkt jedoch stets aufgrund der historischen Verquickung von „Eliten“ und „Judentum“ die Querverbindung zu Juden gezogen.

Quellen:

  • Johannes Heil: Gottesfeinde, Menschenfeinde. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung, 2006.
  • Leo Löwenthal: Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus, 2021.
  • Tobias Jaecker: Antisemitische Verschwörungstheorien nach dem 11. September. Neue Varianten eines alten Deutungsmusters, 2004.
  • Juliane Wetzel: Verschwörungstheorien, 2008.